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Leitlinien für eine faire, inklusive und sorgende Stadt

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Überlegungen zu ihrer Umsetzung in der freiraumplanerischen Praxis

Von Dr. Christiane Droste

Die Leitlinien des Bundesbauministeriums für eine faire, inklusive und sorgende Stadt sollen alle relevanten Akteur:innen zu gendergerechter Planung motivieren. Die freiraumplanerische Praxis spielt dabei eine Schlüsselrolle: Sie gestaltet einen erheblichen Teil der städtischen Flächen, beeinflusst die Lebensqualität der Städte für eine wachsende sozio-kulturelle Vielfalt von Nutzer:innen, trägt zur Klimaanpassung bei und hat – ein entsprechendes professionelles Selbstverständnis vorausgesetzt – die Option, den Freiraum partizipativ als soziale Infrastruktur zu entwickeln sowie gestalterisch selbst auf kleinsten Flächen Raumgerechtigkeit zu erreichen.

Grafik mit Visualisierungen der acht Positionen für eine faire, inklusive und sorgende Stadt
Grafik: BMWSB

 

Die Forderung, Geschlechtergerechtigkeit, Diversität und Inklusion in die Freiraumplanung zu integrieren, ist gleichwohl nicht neu: Vor allem die Erfahrungen im internationalen Kontext (Wien, Paris, Umeå) zeigen, dass Freiraumplanung der Bereich der Stadtentwicklung ist, der Geschlechtergerechtigkeit am ehesten explizit umsetzt. Der bdla trägt dem offiziell als Verband seit 2022 Rechnung, als er sich für einen Schritt entschied, den man nicht nur als »social turn«, sondern auch als »gender turn« in der Verbandsgeschichte bezeichnen könnte:

Die enormen Herausforderungen der Gegenwart erfordern ein neues Selbstverständnis von Landschaftsarchitekt:innen, einen social turn. Ohne ein ausgeprägtes Interesse für die Gesellschaft, deren Räume wir gestalten dürfen, ist keine zeitgemäße Landschaftsarchitektur denkbar.

Barbara Willecke, Prof. Dr. Constanze A. Petrow 

Da Leitlinien jedoch meist nicht rechtlich bindend sind, laufen sie Gefahr, im fachlichen Kontext als »Nice to have« interpretiert zu werden. Ein Blick auf den rechtlichen Rahmen zeigt jedoch, dass Ziel und Inhalte dieser Leitlinien eher ein »Must-have« als nur eine Option sind.

Leitlinien sind mehr als eine Option

Der rechtliche Rahmen der Stadtentwicklung liegt hauptsächlich bei Landes- und Kommunalbehörden. Der Bund greift bei Bedarf ein, etwa durch das Grundgesetz (Artikel 3) und das Baugesetzbuch (BauGB), das Gemeinden – wenn auch nur mit binärer Geschlechterperspektive – verpflichtet, soziale, kulturelle und geschlechtsspezifische Aspekte zu berücksichtigen. Auch auf Landes- und kommunaler Ebene sind Geschlechterdifferenzierung in Gesetzen, Planungen und Programmen verankert. Gendergerechtigkeit, Diversität und Inklusion sind also auch mit Blick auf die planungsrelevanten Rechtskreise fraglos ein »Must have«.

Die Leitlinien an sich argumentieren jedoch weniger mit dem rechtlichen Rahmen als mit einem holistischen Ansatz zur Integration von Gendergerechtigkeit, Diversität und Inklusion in die Stadtentwicklung.

Freiarumplanerische Praxis als Leitdiziplin

Warum sich die freiraumplanerische Praxis vielleicht als eine Art »Leitdisziplin« für ihre Umsetzung anbietet, zeigen die Umsetzungsansätze zu den einzelnen Leitsätzen:

1 Für eine starke Repräsentation, Diskriminierungsfreiheit und inklusive Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen sind nach Gender und Diversität differenzierende Daten-Analysen und Beteiligungsformate erforderlich. In der Freiraumplanung haben sich dafür Erzähl- und Empowerment-Formate sowie der in Wien entwickelte Fairness-Check bewährt, der eine Abwägung erleichtert, was die Nutzer:innen zur besseren Alltagsbewältigung benötigen bzw. welche soziale Leistungsfähigkeit der Raum haben muss, um Konflikte zu vermeiden.

2 Für mehr Sichtbarkeit und Teilhabe im öffentlichen Raum ist es hilfreich, wenn Fachplaner:innen lokales Alltagswissen in einer »Phase 0« von Planung ermitteln und ihre Freiraumkonzepte als soziale Infrastruktur im öffentlichen Raum verstehen. Ansätze wie das Design for all tragen zu inklusiven Raum-, Funktions- und Gestaltungskonzepten bei, interkulturelle Ansätze der Partizipation qualifizieren die Planung für eine diverse Stadtgesellschaft.

Die Sprache des Raumes sprechen wir alle: Es ist die Sprache des gesellschaftlichen Miteinanders.

Barbara Willecke, Landschaftsarchitektin bdla, planung.freiraum, Berlin

Straßenraum zurückerobern für  Aufenthalt und Fußgänger:innen

3 Für eine gerechte Mobilität und Barrierefreiheit gilt es, Verkehrsflächen fair zu teilen und zu gestalten. Das erfordert, die Raumnutzungsprofile einer vielfältigen Bevölkerung zu analysieren, den Rad- und Fußverkehr zu priorisieren. Ein extremes Beispiel dafür, wie/wo Straßenraum zurückerobert wurde für Radmobilität und die Stadtmöblierung, ist die Place Gambetta in Paris, wo einem extrem überlasteten Kreisverkehr Sitzinseln und Radwege und damit 58 Prozent mehr Fläche für Fußgänger:innen und nicht-motorisierten Verkehr abgerungen wurden.

Place Gambetta in Paris: Straßenraum wurde zurückerobert für Radmobilität und Stadtmöblierung. © UP19, 2024

 

4 Sicherheit erhöhen für ein diskriminierungsfreies öffentliches Leben, heißt für die Freiraumplanung, die Bedarfe spezifischer Gruppen gleichberechtigt ins Bewusstsein von Planenden und Stadtgesellschaft zu rücken und damit Ausgrenzung und Mikroaggressionen zu reduzieren: Sich sicher im öffentlichen Raum zu bewegen, ist z. B. für queere Lebenswelten, als Migrant:innen gelesene Personen oder sozial stark benachteiligte Menschen (zunehmend) keine Selbstverständlichkeit.

5 Qualitätvolles Wohnen und Sicherheit im häuslichen Umfeld zu gewährleisten, fordert von der Freiraumplanung, Raum für Rückzug, Gemeinschaft und Mobilität unterschiedlichste Bevölkerungsgruppen zu bieten, den Freiraum zu zonieren und eine hohe Identifi-kation der Anwohner:innen mit ihrem unmittelbaren Wohnumfeld zu ermöglichen. Ein Beispiel dafür ist der Letteplatz in Berlin mit seinem in niedrigschwelligen, kultursensiblen und aufsuchenden Beteiligungsformaten erarbeiteten Raumkonzept. An einem Beispiel am Stadtrand von Turin unterstützen Freiraumplanung und Beleuchtungskonzept Tag und Nacht das Sicherheitsgefühl der aus den umliegenden Wohngebieten fußläufig erreichbaren Konsum- und sozialen Infrastruktur.

Letteplatz. Planung: planung.freiraum. © Andreas Süß

 

6 Care-Arbeit in das Blickfeld der Stadtentwicklung nehmen, bedeutet für die Freiraumplanung, in Zusammenarbeit mit der Verkehrsplanung Wegeketten und Aufenthaltsräume im Freiraum zu entwickeln, die das Konzept der 15-Minuten-Stadt unterstützen. Als Arbeitshilfe überzeugt hier nach wie vor das Beispiel des Colletiu Punt6 in Barcelona: es zeigt nicht nur Geschlechter-und Rollenstereotypen in der Care-Arbeit und deren Effekte auf die Alltagswege und Zeitregimes, sondern auch, dass auch »kurze Wege« nicht für alle Menschen die gleiche Qualität haben.

 

Care-Arbeit zum Ausgang der Stadtentwicklung machen. © Colletiu Punt6

 

Freiraum als soziale Infrastruktur entwickeln

7 Eine gesunde Stadt für alle freiraumplanerisch zu unterstützen, bedeutet Care-Arbeit, Gesundheitsförderung und -prävention in Freiraumkonzepten mitzudenken, kurz: den Freiraum als soziale Infrastruktur zu entwickeln. Kleinräumige, für die lokale Bevölkerung passfähige Bewegungsangebote tragen dabei auch der Interkulturalität und Diversität der Nutzer:innen Rechnung. Sie können, wie ein Beispiel aus Bologna zeigt, dazu beitragen, den Straßenraum für taktiles Lernen und Begegnung zu nutzen – insbesondere da, wo Grünraum und Sicherheit für Querungen fehlen.

© UP19, 2024

 

8 Klimaanpassung gendersensibel umzusetzen und Resilienz aufzubauen, ist für die Freiraumplanung ein zunehmend relevantes Thema. Geschlechter-, Alters- und gesundheitliche Differenzen im Nutzungsanspruch zeigen sich dabei vor allem bei der Hitzevulnerabilität. Anpassungsbedarf zeigt sich hinsichtlich der Wegeketten des Alltags und da, wo Freiraum zur Erholung bzw. aufgrund klimatischer oder funktionaler Überhitzung des Wohnraums genutzt wird. Hier lohnt das Lernen von Beispielen aus den Ländern des Südens, wie z. B. an den überdachten Stadtplätzen von Bilbao.

Fazit

Was könnte Landschaftsarchitekt:innen motivieren, sich mit diesen acht Leitlinien für eine faire, inklusive und sorgende Stadt zu beschäftigen? Der Rückblick auf 25 Jahre Gender Mainstreaming Prozesse in der Stadtentwicklung zeigt: Die Veränderung des fachlichen Selbstverständnisses einer Planungsdisziplin ist ein langer Prozess. Die Leitlinien – akzeptanz-freundlich, moderat und weniger machtkritisch formuliert als explizit feministische Ansätze zum Thema – haben Potenzial, einer »kritischen Masse« von Freiraumplaner:innen als Instrument der Qualitätssicherung zu dienen.


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Autorin: Dr. Christiane Droste, Geschäftsführende Gesellschafterin, wissenschaftliche Projektleitung, UP19 Stadtforschung + Beratung GmbH, Berlin.

Der Text erschien in der bdla-Verbandszeitschrift "Landschaftsarchitekt:innen" 2/2025.

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