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Warum wir Arbeitszeit neu denken müssen

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Zwischen Leidenschaft und Lebensrealität: Neue Wege der Arbeitszeitgestaltung

Von Sandra Schuster

Das Berufsfeld rund um das Gestalten unserer gebauten Umwelt galt lange als Berufung – eine Leidenschaft, die keine Grenzen kennt. Norman Fosters berühmte Frage, ob man wirklich jede einzelne Sekunde seines Lebens Architekt:in sein wolle, prägte Generationen. Doch dieses Bild gerät zunehmend ins Wanken. Die Herausforderungen der Gegenwart – von der Klimakrise über den Fachkräftemangel bis zur Notwendigkeit vielfältigerer Perspektiven – fordern neue Antworten.

Immer mehr Planende hinterfragen den Mythos des 24/7-Jobs.

Sie suchen nach Wegen, ihr berufliches Engagement mit Care-Aufgaben, ehrenamtlichen Tätigkeiten oder einfach einem ausgewogenen, planbaren und gesünderen Privatleben zu vereinbaren. Gleichzeitig ist der Fachkräftemangel längst spürbar: Wegen des demografischen Wandels suchen viele Büros händeringend nach qualifiziertem Nachwuchs, während erfahrene Kolleg:innen aufgrund fehlender Flexibilität den Beruf verlassen.

Ein Blick in die Praxis zeigt: Präsenzkultur und Überstunden prägen vielerorts noch immer den Berufsalltag. © isreal andrade, unsplash

Die Möglichkeit, Arbeit, Familie, gesellschaftliches Engagement und individuelle Bedürfnisse miteinander zu verbinden, wird zum entscheidenden Faktor für die gesamte Branche. Es stellt sich die Frage: Können flexible Arbeitszeitmodelle zu einer inklusiven, resilienten und zukunftsfähigen Architekturpraxis beitragen?

Was heißt eigentlich »flexible Arbeitszeitgestaltung« – und warum ist das relevant?

Flexibilität bei der Gestaltung unserer Arbeitszeit umfasst weit mehr als nur die Möglichkeit von Homeoffice oder Teilzeitmodellen. Sie bedeutet eine fortlaufende Abstimmung auf Augenhöhe zwischen Unternehmen und Mitarbeitenden – sowohl hinsichtlich des Arbeitsumfangs als auch der zeitlichen Verteilung. Ziel ist, die unterschiedlichen Lebensrealitäten der Mitarbeitenden mit den betrieblichen Anforderungen in Einklang zu bringen.

Entscheidend dabei: Echte Flexibilität bedeutet mehr, als einfach nur die Arbeitszeit zu reduzieren.

Bei klassischer Teilzeit ist oft lediglich die Stundenanzahl reduziert, ohne dass Mitarbeitende Einfluss darauf haben, wann und wie diese Stunden verteilt werden. Flexible Arbeitszeitgestaltung zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass beide Seiten gemeinsam und fortlaufend über Umfang, Lage und Verteilung der Arbeitszeit entscheiden können. Erst dadurch entsteht wirkliche Wahlfreiheit – für Unternehmen und Beschäftigte gleichermaßen.

Gerade in Planungsbüros heißt das, dass Arbeitszeitmodelle wie Gleitzeit, Vertrauensarbeitszeit, Jahresarbeitszeitkonten oder Jobsharing sorgfältig auf die Besonderheiten des Projektgeschäfts, die Teamarbeit und die Erwartungen der Auftraggeber:innen abgestimmt werden.

Flexible Arbeitszeitmodelle eröffnen hier echten Gestaltungsspielraum: Neben den genannten Optionen zählen dazu auch Funktionszeit, Sabbaticals oder die Möglichkeit, Arbeitszeiten individuell an verschiedene Lebensphasen und persönliche Umstände anzupassen. Entscheidend ist, dass Flexibilität nicht nur als theoretisches Angebot besteht, sondern strukturell verankert ist und im Alltag von beiden Seiten aktiv gelebt wird.

Ich halte eine 32-Stunden-Woche für Frauen wie Männer für das gerechteste Arbeitsmodell.

Prof. Dr. Jutta Allmendinger, deutsche Soziologin, Süddeutsche Zeitung, 2015

Warum braucht die Planungsbranche fexible Arbeitszeitmodelle?

Die Antwort ist zugleich einfach und vielschichtig und durch arbeitswissenschaftliche Forschung umfassend belegt. Flexible Arbeitszeiten tragen maßgeblich dazu bei, dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken sowie talentierte Mitarbeitende nicht nur zu gewinnen, sondern auch langfristig zu binden. Sie schaffen Raum für Diversität und ermöglichen es Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen, ihre Kompetenzen und Perspektiven einzubringen. Das Ergebnis ist eine gesteigerte Kreativität und Innovationskraft im Team. In inklusiven und diversen Planungsbüros entstehen Lösungen, die die Bedürfnisse einer pluralen Gesellschaft widerspiegeln.

Flexible Arbeitsmodelle sind daher längst kein bloßes »Nice-to-have« mehr, sondern ein wesentlicher strategischer Erfolgsfaktor für zukunftsfähige Unternehmen.

Gleichzeitig zeigt ein Blick in die Praxis: Überstunden und Präsenzkultur prägen vielerorts noch immer den Berufsalltag. Nach aktuellen Erhebungen liegt die durchschnittliche Wochenarbeitszeit in Architektur- und Planungsbüros deutlich über dem branchenübergreifenden Durchschnitt; zahlreiche Überstunden bleiben unbezahlt oder werden nicht ausgeglichen. Diese Strukturen erschweren die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben und schließen insbesondere Menschen mit Care-Aufgaben oder anderen Verpflichtungen aus. Flexible Arbeitszeitgestaltung ist daher weit mehr als eine Reaktion auf den gesellschaftlichen Wandel: Sie ist Voraussetzung für echte Chancengleichheit und eine nachhaltige Weiterentwicklung der Branche.

Arbeitszeitmodelle wie Gleitzeit, Vertrauensarbeitszeit, ortsflexibles Arbeiten, Jahresarbeitszeitkonten oder Jobsharing müssen sorgfältig auf die Besonderheiten des Projektgeschäfts, die Teamarbeit und die Erwartungen der Auftraggeber:innen abgestimmt werden. © kristin wilson, unsplash

Welche Voraussetzungen sind dafür notwendig?

Die erfolgreiche Einführung flexibler Arbeitszeitmodelle in Architekturbüros beginnt bei der Unternehmenskultur. Gefragt ist eine bewusste Abkehr vom Ideal des allzeit präsenten »Architekturhelden« hin zu einer Haltung, die Vertrauen, Wertschätzung und Ergebnisorientierung in den Mittelpunkt rückt. Führungskräfte nehmen dabei eine Schlüsselrolle ein: Sie sind gefordert, als Vorbilder zu agieren, eine transparente Kommunikation zu leben und die Selbstorganisation ihrer Teams aktiv zu fördern.

Doch eine offene Haltung allein genügt nicht. Auch auf struktureller Ebene braucht es klare Voraussetzungen: Anstelle starrer Hierarchien sind definierte Rollen und nachvollziehbare Verantwortlichkeiten notwendig. Prozesse müssen transparent gestaltet, strategische Ziele klar benannt und geeignete Werkzeuge zur Kapazitätsplanung und Zeiterfassung implementiert werden – stets mit dem Fokus auf Leistung und Ergebnisqualität, nicht auf bloße Anwesenheit. Ergänzt werden sollte dies durch Maßnahmen des betrieblichen (Gesundheits-) Managements, die Belastungsspitzen frühzeitig erkennen und gesundes Arbeiten ermöglichen.

In vielen Büros fehlt allerdings nach wie vor eine konsequente und transparente Zeiterfassung – sie bildet jedoch die Grundlage für eine realistische Planung und eine gerechte Verteilung der Arbeit. Auch Kapazitätsplanung und betriebswirtschaftliche Steuerung sind häufig nur rudimentär vorhanden. Erst wenn hier Kompetenz und Transparenz geschaffen werden, können flexible Modelle dauerhaft gelingen und zur Stärkung des Teams beitragen.

Nicht nur Planungsbüros, sondern viele kleine und mittlere Unternehmen (KMU) stehen hier vor besonderen Herausforderungen. Im Unterschied zu Großunternehmen, die flexible Arbeitszeitgestaltung bereits seit längerem implementiert haben, mangelt es KMU oftmals an erprobten Verfahren oder betriebswirtschaftlichem Know-how. Gleichzeitig eröffnet ihnen die größere Nähe zum Team und die flachere Hierarchie die Möglichkeit, passgenaue und kreative Lösungen rascher umzusetzen.

Schon kleine, konsequent umgesetzte Schritte – etwa die Einführung einer transparenten Zeiterfassung oder moderierte Workshops zur Bewertung der aktuellen Arbeitszeitgestaltung – können hier den Wandel in Gang setzen und neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit und Teilhabe eröffnen. Entscheidend ist, dass Strukturen und Prozesse bewusst gestaltet werden und Flexibilität als Teil einer zukunftsorientierten Strategie verstanden wird.

Risiken und Herausforderungen:Was muss beachtet werden?

Flexible Arbeitszeitgestaltung eröffnet viele Chancen, bringt jedoch auch Herausforderungen mit sich. Besonders in Berufen mit hoher intrinsischer Motivation droht die Gefahr der Selbstausbeutung. Ebenso können ständige Erreichbarkeit und eine ungleiche Arbeitsverteilung innerhalb des Teams zu Belastungen führen.

Diese Risiken lassen sich durch klare, gemeinsam entwickelte Regelungen – wie etwa E-Mail-Sperren während der Urlaubszeit –, ein gelebtes Verständnis von Zeitsouveränität sowie gezielte Schulungen in Selbstorganisation und Reflexion wirksam begrenzen. Entscheidend ist, dass Arbeitszeitgestaltung stets im Sinne des gesamten Teams erfolgt und nicht zulasten Einzelner geht.

Erfahrungen zeigen: Wo flexible Modelle eingeführt werden, sind regelmäßige Reflexion und der offene Austausch im Team unverzichtbar. Rückmeldungen zur tatsächlichen Belastung, die Bereitschaft zur Anpassung von Prozessen und ein transparenter Umgang mit Fehlern verhindern Überforderung und machen flexible Arbeitszeitgestaltung zum lernenden System, das sich weiterentwickeln kann.

Fazit: Zukunftsfähige Arbeitskultur

Flexible Arbeitszeitgestaltung ist mehr als eine Reaktion auf den Fachkräftemangel oder den Wunsch nach Diversität. Sie ist ein Schlüssel für eine nachhaltige und zukunftsfähige Transformation unserer Branche.

Wer lebenswerte Räume für Menschen gestaltet, braucht Strukturen, die Lebensrealitäten berücksichtigen und Vielfalt ermöglichen. Wer vielfältige Perspektiven in die Planung einfließen lassen will, muss dafür sorgen, dass diese Stimmen am Planungstisch sitzen.

Der Mut, eingefahrene Wege zu verlassen und etablierte Strukturen neu zu denken, wird belohnt: mit engagierten Teams, widerstandsfähigen Büros und Projekten, die die Anforderungen einer pluralen Gesellschaft nicht nur erfüllen, sondern aktiv mitgestalten. So wird die Planungsbranche selbst zu einem Vorbild für eine moderne, menschliche Arbeitskultur – und zu einem Ort, an dem Leidenschaft, Kreativität und Innovation aufblühen können.


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Autorin: Dr.-Ing. Sandra Schuster, Architektin, München; Autorin des Buchs "Zeiträume gestalten. Flexible Arbeitszeitmodelle in Architekturbüros", 2024, transcript Verlag 

Der Text erschien in der bdla-Verbandszeitschrift "Landschaftsarchitekt:innen" 2/2025.

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